Erinnerung ist das Geheimnis der Versöhnung -
Projektfahrt nach Auschwitz und Krakau im Herbst 1999

Inhalt:


"Das ist keine Phantasie, das habe ich erlebt."
Zeitzeugen berichten

Die Verabredung mit den Zeitzeugen während unseres Aufenthaltes in Auschwitz ist für Samstag, den 23.Oktober 1999 um zehn Uhr morgens festgelegt. Aufgrund der Verkehrsanbindung von Krakau nach Auschwitz beginnen wir, den Berichten gespannt entgegensehend, mit einer halbstündigen Verspätung. Unsere Gäste sind zwei ältere polnische Herren: Stanislaw Gladyszek, der in Auschwitz 2 (Birkenau) inhaftiert war, und Stanislaw Staszkriewicz, ein ehemaliger Häftling des Stammlagers Auschwitz.
Langsam beginnt Stanislaw Gladyszek über sein Leben auf Deutsch zu berichten. Der junge Stanislaw war 17 Jahre alt, als es am 1. September 1939 zu der Schließung seines Gymnasiums in Krakau kam. Daraufhin agierte er zwei Jahre lang in einem Untergrundtheater. Als ihm die Inhaftierung drohte, lebte er vier Monate versteckt. 1942 wurde Stanislaw Gladyszek jedoch trotzdem verhaftet und für einen Zeitraum von zwei Monaten in dem Gefängnis in Tarnow inhaftiert. Eindrucksvoll berichtet Herr Gladyszek von seinem dreitägigen Transport im Dezember 1942, zusammen mit rund 1700 Männern, nach Auschwitz. Die Häftlinge wurden auf dem drei Kilometer entfernten Güterbahnhof "entladen" und mußten, mit Schlägen und Knüppeln traktiert, nach Auschwitz laufen. Da sich Auschwitz - Birkenau zu der damaligen Zeit noch im Bau befand, wurden die Häftlinge zuerst im Stammlager untergebracht, nach kurzer Zeit dann in Birkenau.
Seine ersten Eindrücke des Lagers waren "der Geruch, die Lichtstrahlen und die Häftlinge mit ihren Streifenanzügen", beschreibt der ehemalige Insasse des Lagers. "Es herrschten schreckliche Bedingungen, nur Schmutz und Schlamm. Und immer wieder Schläge, Schläge, Schläge." Erst im Januar 1943 wurde Stanisalaw Gladyszek der Prozedur der Registrierung unterzogen. "Die Häftlinge mußten sich ausziehen und nackt zur 'Sauna' durch Schlamm und Schnee laufen. Dort wurden ihnen die Haare des Körpers abgeschnitten und sie wurden mit Desinfektionsmittel eingestrichen. Dies brannte fürchterlich in den kleinen Wunden, die beim Rasieren entstanden waren. Danach wurde eiskalt geduscht und man bekam einen Anzug, der aus Hose und Jacke bestand. Nun wurde jedem ein Zettel mit der Nummer für die Kleidung und zum Tätowieren gegeben." Herr Gladyszek bekam einen roten Winkel mit dem Buchstaben P (für politischer Häftling) und die Nummer 94559. Nun kam es zur Arbeitszuteilung. "Jeder wollte das Beste machen und gab sich besser aus" (als er ausgebildet war). Getreu dem Motto "Arbeit macht frei" wurden kranke Menschen gleich erschossen, denn "für Auschwitz waren nur diejenigen von Nutzen, die noch arbeiten konnten." So kam es, daß Stanislaw Gladyszek zuerst bei dem Bau der Baracken für Birkenau beschäftigt war. Ein Jahr später aber, nach der Errichtung einer Schonungsbaracke, wurde sein Wunsch, Pfleger zu sein, dort erfüllt. Nun war Stanislaw Gladyszek erst als Kranker, dann als Hilfspfleger in der Krankenabteilung untergebracht.
Den Alltag in Auschwitz beschreibt Herr Gladyszek als ein "hoffnungsloses Leben". "Man kann nicht sagen, daß es ein Leben ist, wenn Menschen wie Vieh behandelt werden." 1944 waren in Auschwitz vier große Krematorien tätig, davon war eins im Stammlager nur "provisorisch". Auch er hat Judentransporte gesehen, von denen man anfangs sagte, sie würden in den Waschraum gehen. "Leute laufen wie Teufel, Fett brennt, alles brennt!" beschreibt er einen nächtlichen Transport, bei dem er in 20 Metern Entfernung unerlaubt anwesend war.
Als die russische Front immer näher rückte, wurde Auschwitz geräumt und Herr Gladyszek kam mit einem von vielen Transporten nach Deutschland. Er wurde mit einem Waggontransport mit über 2000 Menschen nach Schömberg bei Freudenstadt deportiert und kam dort nach Dautmergen, (einem Außenlager von Natzweiler), wo Herr Gladyszek am 22.Juli 1944 ankam. Das Lager war eine große Wiese, die sich im Winter in Matsch und Schlamm verwandelte. Von dieser Zeit an, bis zur Befreiung durch die Franzosen im März 1945, war Stanislaw Gladyszek in einer Ölschieferfabrik beschäftigt. Nach dem Krieg blieb Herr Gladyszek noch für einige Zeit in Deutschland, weil er in das von Kommunisten regierte Polen nicht zurückkehren wollte.
Auf die Frage, ob er es als Glück empfindet, überlebt zu haben, antwortet er: "Im Lager dachte ich immer, wenn Du nur für einen Tag frei und satt bist, dann bist Du glücklich. Jetzt bin ich total glücklich. Ich erlebe jeden Tag mit großer Freude. Ich habe das erlebt und überlebt, da bin groß." So würden andere Kameraden nicht darüber reden wollen und ihre persönliche Erlebnisse verdrängen. Er könne es jedoch nur verarbeiten, indem er in die Gedenkstätte Auschwitz geht und als Überlebender den Jüngeren seine Geschichte übermittelt.
Nach dem Krieg war Herr Gladyszek nicht wieder in Dautmergen, aber er besuchte Dachau und Flossenbürg. Abschließend bemerkt der 77jährige: " Das ist keine Phantasie, das habe ich erlebt."

Auch Stanislaw Staszkriewicz hat ein bewegendes Leben hinter sich, das er nun auf Polnisch vor uns darlegen möchte. Nach seiner Verhaftung aufgrund politischer Aktionen in einer Widerstandsgruppe im Untergrund wurde der damals 20jährige 1943 mit einem Transport, bestehend aus 24 Männern und 15 Frauen, nach Auschwitz deportiert. Da sie von dem Konzentrationslager Auschwitz wußten, waren sie dementsprechend schockiert, als sie erfuhren, wohin sie gebracht werden.
Auch diese Männer und Frauen mußten den Prozeß der Registrierung über sich ergehen lassen. Nach dem Ausziehen, Rasieren, der Desinfektion und Entlausung bekam Stanislaw Staszkriewicz die Nummer 130382 auf den Unterarm tätowiert. Danach sollten sie in den Waschraum zum Duschen gehen, wobei sie nun natürlich Angst bekamen; denn sie hatten schon von den Gaskammern gehört. "Aber zum Glück kam nur Wasser aus den Hähnen." Nach dem Anziehen seiner Häftlingsuniform bekam auch er rote Winkel mit einem P, um sie auf Brust und Oberschenkel an die Kleidung zu nähen. Nach einer vierwöchigen Quarantäne im Block 2, zu zweit auf einer Pritsche schlafend, wurden ihnen die deutschen Hauptbegriffe "Mütze ab, Stillstehen..." beigebracht, die er auch heute noch beherrscht. Nach der Einteilung in Arbeitsgruppen war Herr Staszkriewicz beim Bau der Straße von Auschwitz nach Birkenau beschäftigt. Später traf er einen Freund, der ihn in eine leichtere Arbeitsgruppe schleuste. Nun war er zwischenzeitlich beim Bunkerbau, als Maurer und Restaurateur eines Hauses tätig. Seine letzte Beschäftigung war in einem Lebensmittellager, wodurch er eine bessere Möglichkeit zum überleben besaß.
Im Juni 1944 wurde Stanislaw Staszkriewicz mit einem Transport nach Ravensbrück gebracht, um dort in einer Waffenfabrik zu arbeiten. Die Begrüßung klingt auch heute noch in seinen Ohren. Sie lautete: "Ihr seid hierher zum Tod, zur Vernichtung gekommen. Ihr werdet nicht länger leben als drei Wochen." Als Männer, die an dem Warschauer Aufstand beteiligt waren, in das Lager kamen, erfuhren die übrigen Häftlinge, dass die Front immer näher rückt. Nach den Bombenangriffen auf Oranienburg wurden Stanislaw Staszkriewicz und andere Häftlinge als Bombensucher genutzt. Es handelte sich um Bomben mit Zeitzünder, die erst Wochen später explodierten. Jedoch gelang es ihnen durch diese Arbeit, Essen in den Kellern zu finden und so zu überleben. Im April 1945 wurde der letzte Appell durchgeführt, bei dem es hieß "Wer sich gut fühlt auf die rechte und wer sich schlecht fühlt auf die linke Seite". So kam es, daß Herr Staszkriewicz das Lager - er war auf die rechte Seite gegangen - verließ. Vom 18. April bis zum 3. Mai 1945 dauerte der Marsch der Häftlinge an, die zu Fuß bis Schwerin und weiter bis Hamburg liefen. Unterwegs ernährten sie sich von gefundenen Kartoffeln und ausgegrabenen Wurzeln. Als plötzlich die SS-Männer verschwunden waren, liefen sie allein weiter bis sie in Hamburg von den Amerikanern befreit wurden.
Stanislaw Staszkriewicz blieb noch ein Jahr in Hamburg und kehrte 1946 nach Polen zurück. Auf die Frage, wie er mit seinen schrecklichen Erlebnissen umgeht, berichtet er, daß er sehr nervös sei und auch sein Nervensystem nicht in Ordnung wäre. Er war bereits viermal im Krankenhaus und muß sich häufig Beruhigungsspritzen geben lassen. "Gab es Entschädigungszahlungen?" "Nein; es wäre mir zwar zugestattet, aber ich habe nichts erhalten." So wurde der ehemalige Häftling mit medizinischen Experimenten behandelt, beispielsweise mit Röntgenstrahlen, dennoch hat er keine Entschädigungsgelder bekommen.
Aufgrund dieser Zeitzeugenberichte ist auch uns die Geschichte des Lagers und das Leben in ihm näher gerückt. Auch wenn einige Dinge immer noch ungeklärt sind und auch bleiben werden, kann die Verständnislosigkeit und teilweise Lethargie der Nachkriegsgenerationen nur durch solche Tatsachenberichte verringert werden. Vielen Dank an Herrn Gladyszek und Herrn Staszkriewicz!

Constance Marschan



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