Erinnerung ist das Geheimnis der Versöhnung -
Projektfahrt nach Auschwitz und Krakau im Herbst 1999

Inhalt:


"Sarah und Ruth" - Dialog auf den Gleisen
Auschwitz, Oktober '99

(Mit Rucksack und Fotoapparat ausgestattet, setzen sich Sarah und Ruth erschöpft auf die Schienen und ruhen sich aus. Ruth legt sich hin.)

Sarah:

"Ah, endlich Pause. Tut das gut nach so einer langen Führung."

Ruth (seufzt erleichtert):
"Stimmt".

Sarah:
"Sag mal, meinst du nicht auch, dass da was zwischen Tina und Sven läuft?"

Ruth:
"Ich weiß nicht."

Sarah:
"Doch. Die haben sich doch vorhin die ganze Zeit angeguckt."

Ruth:
"Und außerdem hat er sie ja dauernd angelächelt.
(Pause. Ruth richtet sich auf)
Apropos anlächeln:
Was läuft da eigentlich zwischen dir und Marco?"

Sarah (unschuldig):
"Wieso, was soll da sein?"

Ruth:
"Na denkst du, ich hab nicht mitbekommen, wie ihr ständig rumgeflirtet habt?"

Sarah:
"Naja...So'n bisschen vielleicht.
Vorhin bei der Führung da hat er mich die ganze Zeit in die Seite gestupst. Das hat mich natürlich total abgelenkt, aber irgendwie war's total schön.
Voll süß!" (Gekicher)

Ruth:
"Und als er dann zum...na, wie hieß er gleich
...na, der Führer halt, gesagt hat
'hey, voll horrormäßig, ey', da fand ich das auch."

Sarah (voller Überzeugung):
"Genau! Der findet ja auch die neue 'Ravesensation five' voll geil.
Find ich übrigens auch."

Ruth:
"Ja, stimmt eigentlich. Die is ja auch total zum Abdancen. Da gucken wir morgen gleich mal, ob es die hier auch gibt."

Sarah:
"Aber der Führer hat ja schon blöd gekuckt, als der das gesagt hat.
Warum eigentlich?"

Ruth:
"Ja, wieso denn? Er hat doch recht gehabt.(Pause)
Obwohl....in der Gaskammer wäre Schweigen vielleicht doch angebrachter gewesen.
(Sarah wirft Ruth einen befremdeten und verständnislosen Blick zu)
Ach, scheiß drauf. Hast du schon Englisch gelernt?"

Sarah:
"Äh,....nee.
Ach weißte, ich hab noch nichts gelernt. Für diese dumme Gans lern' ich doch nichts. Die regt mich sowieso voll auf. Die und ihr Lover Ali ...
oder Mohammed oder wie dieser Türke da heißt."
(peinliches Schweigen)

Ruth (hastig):
"Äh...
hat Marco eigentlich schon deine Telefonnummer?"

Sarah:
"Nee, soweit is es nun auch noch nicht. Aber bald vielleicht.
(Pause. Schaut sich in der Gegend um)
Aber es muss schon grausam hier gewesen sein."

Ruth (leicht angewidert):
"Ja. Stell dir mal vor, die konnten sich hier nicht mal richtig waschen."

Sarah:
"Na das hab ich jetzt nicht gemeint.
(peinliches Schweigen)
äh.. weißt du noch, als wir in dieser einen Baracke da waren?"

Ruth:
"In welcher?"

Sarah:
"Na, in der, wo Marco uns das komische Bild von dem einen Häftling gezeigt hat.
Der mit den riesen Segelohren!"

Ruth:
"Ach ja, klar.
Der, der aussah wie Dumbo!"
(Gelächter)

Sarah:
"Und als wir dann bei..., bei...
(Pause)
den Haaren waren...
(Pause)
den Haaren."

Ruth:
"Ja, was war da?"

Sarah:
"...die Haare..."

Ruth (ungeduldig):
"Ja. Und? Was war denn da?"

Sarah (verwirrt):
"Ach so, ja.
Da hab' ich dann... die Haare.
(Pause)
Sie waren so viel. So grau. So viel.
Als hätte jemand sie da einfach hingeworfen und vergessen. Die Zöpfe, die Locken. Wie Stroh aus Haaren. Ein Meer aus Stroh.
Wer hätte denn gedacht, dass....?
Na, und dann die Schuhe. Die Schuhe waren so viele und so grau.
Ich höre ein Rufen: 'Sarah, Sarah'. Schreie? Weinen?
Nein, es ist ein Atem. Ein Atemzug, den ich höre. Es waren verschiedene Atemzüge. Alles atmete und rang nach Luft!
Ich gehe den Gang entlang. Die Schuhe nehmen kein Ende. Sie wollen mich nicht loslassen. Jeder Schuh atmet. Sie nehmen mir die Luft weg. Ich laufe weiter. Ich suche und suche. Ich suche nach ein bisschen Luft. Luft!
Es war keine da.
Sie wollten mich nicht loslassen, die Schuhe. Alles so grau und so viel. Es füllt den ganzen Raum aus. Und nirgends ein bisschen Luft. Nur Schuhe.
(Pause. Sarah verharrt. Plötzlich schreckt sie auf, wühlt in ihrer Tasche, nimmt sich eine Zigarette und zündet sie sich mit zittrigen Fingern an, schaut sich nebensächlich ihre Fingernägel an und wendet sich mit kühlem Blick an Ruth.)
Apropos Schuhe: Weißt du eigentlich, dass du total scheiße aussiehst mit deinen Tretern?"

Constance Marschan und Katherine Grzelak



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